Ohne unmittelbaren Verwendungszweck

Die Formel "Ohne unmittelbaren Verwendungszweck = Müll" ist allgegenwärtig. Das hilft im Alltag, aber ist das immer schlau?
Autor
Walter Pfefferle
Veröffentlicht
15/1/2025
Lesezeit
3 Minuten
Kategorie
Kunst

Müll - eine subjektive Zuschreibung

Dinge, die keinen unmittelbaren Verwendungszweck (mehr) erfüllen, bezeichnen wir in der Regel als Müll. Dies ist eine subjektive Sicht, die Sicht des Beurteilenden. Diese subjektive Sicht macht Müll zu einem spannenden Thema. Es ist zudem ein Thema, das es eigentlich gar nicht geben dürfte, da in einer idealen Welt mit perfekter Kreislaufwirtschaft Materialien/Substanzen ohne weiteren Verwendungszweck gar nicht existieren.

Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur kann diesen scheinbaren Widerspruch auflösen. So schreibt die Ethnologin Mary Douglas in ihrer Studie Purity and Danger (1), dass Schmutz und Abfall nicht an sich existieren, sondern im Zuge kultureller Zuschreibung entstehen. Müll ist also in der Tat etwas, mit dem der Beurteilende nichts anfangen kann oder mag. Etwas wird somit zum Abfall, wenn es sich am falschen Ort befindet, Müll is „matter out of place“. Dass uns dieses Etwas im Alltag umgibt, mag uns nicht immer angenehm sein, normalerweise ziehen wir eine klare Trennlinie zwischen uns und dem Müll, nicht zuletzt sind Mülleimer und in besonderer kultureller Ausprägung Mülltonnen-Gebäude ein Ausdruck dieses Abgrenzungsbedürfnisses. Die Anwesenheit von Müll in unserem Alltag mag dazu führen, dass wir uns selbst als am falschen Ort fühlen.

Müll und Wertschätzung

Nicht weit ist dann der Weg, dass die Abneigung gegen Müll und Schmutz (das sich am falschen Ort Befindende) sich dann nicht nur auf Objekte, sondern auch gegen Gruppen richtet, wie Corbin 1982 in seinem Buch schreibt (2). Auch wenn wir heute sicherlich nicht mehr Menschen, die sich mit schmutzigen Dingen beschäftigen, generell als verdächtig oder gefährlich einschätzen, so ist die Wertschätzung von Berufen, die sich um die Beseitigung von Müll und Abfall kümmern, häufig doch gering, was sich gerade auch in der Entlohnung ihrer Tätigkeit zeigt.

So finden wir im Hotelgewerbe einen ausgeprägten Niedriglohnsektor beim Zimmer-Service. Stellen wir uns einmal vor, dass der Müll, der aus den Zimmern eingesammelt wird, den Wert von Gold hätte, welche Wertschätzung würden dann wohl diese „Zimmermädchen“ in Lissabon erfahren?

Unser Bedürfnis nach Abgrenzung

Wenn wir noch einen Schritt weitergehen, so sehen wir in unseren heutigen Gesellschaften Personen, für die offenbar kein „unmittelbarer Verwendungszweck“ gesehen wird. Je nach Bedürfnis der jeweiligen Gesellschaft zur Abgrenzung sind diese Personen am Tage nur in bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens oder aber nur in den Nachtstunden anzutreffen. Soziologen reden von einem Bedürfnis nach Ordnung, von sauberen Trennungen und Kategorisierungen, die es erlauben, sich der eigenen Identität zu vergewissern.

Das hier gezeigte Bild, das zur Nachtzeit in Singapur aufgenommen wurde, mag in einen ähnlichen Kontext gehören.

Inklusion - umfänglich gedacht

Als moderne aufgeklärte Gesellschaft, die sich den Sustainability Development Goals der Vereinten Nationen verpflichtet fühlt, streben wir eine saubere Umwelt und eine inklusive Gesellschaft an, in der für Alles und Jeden ein Beitrag vorgesehen ist.

Die Aufgabe, die Wirtschaftskreisläufe so zu organisieren, dass Dinge ohne unmittelbaren Verwendungszweck und damit die Gebiete der Wertlosigkeit nahezu komplett vermieden werden, ist schon groß genug.

Wenn wir dann noch unsere Eigenschaft vor Augen haben, dass wir uns unserer Identität und Sinnhaftigkeit unter anderem auch durch Abgrenzung und das Ziehen von Trennlinien vergewissern, so stehen wir vor einer gewaltigen Herausforderung, uns einer wirklich inklusiven Welt anzunähern.

(1) Mary Douglas, Purity and danger; an analysis of concepts of pollution and taboo, Routledge & Paul, London, 1966

(2) Alain Corbin, Le miasme et la jonquille, Aubier / Montaigne, Paris 1982

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